"Auch Normalverdienern droht Altersarmut"
09.09.2012
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Millionen Deutschen droht Armut im Alter, doch ist das nicht die ganze Wahrheit: Viele haben längst private Pensionen abgeschlossen. Doch sind Geringverdiener oft Vorsorgemuffel.
Die Worte klangen spaßig, waren jedoch vollkommen ernst gemeint. "Wer im Alter den Wohlstand von heute halten will, kann Balalaika oder Lotto spielen oder aber mit Riester-Rente und betrieblicher Versicherung vorsorgen." Diesen Ratschlag gab der damalige Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) schon 2006 allen künftigen Ruheständlern.
Denn seit vielen Jahren ist absehbar, dass die gesetzliche Rente im Zuge der Reformen so abgeschmolzen wird, dass mit ihr allein der Lebensstandard in Zukunft nicht mehr zu halten sein wird. Wer heutzutage nicht vorsorgt, dem droht in späteren Jahren der soziale Abstieg.
Dass die heutige Ressortchefin, Ursula von der Leyen (CDU), mit ihrer Warnung vor massenhafter Altersarmut den Nerv der Zeit trifft, zeigen aktuelle Meinungsumfragen. Danach fürchtet inzwischen jeder Dritte, dass sein Einkommen im Alter nicht reicht.
Tatsächlich sinkt das Rentenniveau in den kommenden Jahrzehnten. Liegt derzeit die sogenannte Standardrente noch bei rund 50 Prozent des Nettolohns, sinkt dieser Wert bis 2025 auf 46,2 Prozent ab. Dieses Niveau bezieht sich allerdings auf eine abschlagsfreie Rente, die erst nach 45 Beitragsjahren erreicht wird.
Rentenreformen Grund für Sinkflug
Grund für den Sinkflug sind die Rentenreformen, die zu Zeiten der rot-grünen Koalition durchgesetzt wurden. Künftig stehen immer mehr Rentner immer weniger Beitragszahlern gegenüber. Um das Alterssicherungssystem demografiefest zu machen, kürzte die Regierung Schröder die Leistungen für die künftigen Senioren. Zum Ausgleich wurde die steuerlich geförderte Riester-Rente eingeführt, bei der es vor allem für Eltern und Geringverdiener hohe staatliche Zuschüsse gibt.
Ein weiterer, wichtiger Schritt für den Erhalt des Systems in einer rasch alternden Gesellschaft ist die Rente mit 67, die Müntefering trotz großer Widerstände umsetzte.
Mit diesen Reformen, die heute europaweit als vorbildlich gelten, soll sichergestellt werden, dass der Rentenbeitragssatz, der derzeit bei 19,6 Prozent liegt, auch langfristig nicht über 22 Prozent steigt. Die Reformen seien nötig gewesen, "um die Beitragszahler künftig nicht über Gebühr zu belasten", sagt die Sozialexpertin der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD), Monika Queisser.
Gewerkschaften und Sozialverbände fühlen sich jetzt jedoch durch die alarmierenden Zahlen aus dem Arbeitsministerium in ihrer Forderung bestärkt, dass die Reformen zurückgenommen werden sollten. "Es ist kein Naturgesetz, sondern Folge andauernder Rentenkürzungen, dass künftig sogar Normalverdiener von Altersarmut bedroht sein werden", sagt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach.
Viele haben schon vorgesorgt
Von der Leyen hatte gewarnt, dass einem Arbeitnehmer bei einem Bruttolohn von bis zu 2500 Euro nach 35 Berufsjahren der Gang zum Sozialamt drohe. In seinem aktuellen Rentenversicherungsbericht weist das Arbeitsministerium allerdings selbst darauf hin, dass es irreführend sei, die gesetzliche Rente mit dem Alterseinkommen gleichzusetzen. Schließlich ist sie nur eine von verschiedenen Einkommensquellen im Alter.
Viele Senioren haben zusätzlich vorgesorgt, leben im Eigenheim, haben eine Betriebsrente, eine Lebensversicherung oder eine andere Alterssicherung. Vor allem aber leben die meisten Senioren zu zweit in einem Haushalt, und viele Frauen mit kleinen Renten sind zusätzlich über ihren Ehepartner abgesichert.
Überdies steigt der Anteil der Ruheständler, die ihre Rente mit einem Nebenjob aufbessern. So ist die Zahl der über 64-Jährigen, die einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, in den vergangenen Jahren auf 800.000 angestiegen. Die Prognose, wie groß das Problem der Altersarmut in den kommenden Jahrzehnten wird, ist deshalb schwierig.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Entwicklung der privaten Vorsorge. Mittlerweile "riestern" knapp 16 Millionen Menschen. Die Berechnungen im Rentenbericht zeigen, dass auf diese Weise das Versorgungsniveau in den kommenden Jahrzehnten mit gut 51 Prozent des Nettolohns sogar etwas höher liegen wird als heute. Doch die Frage ist: Wer riestert?
Attraktives Modell für Eltern mit Kindern
Christian Pfarr und Udo Schneider von der Universität Bayreuth zeigen in einer Studie, dass weniger die Angst vor Altersarmut als vielmehr die Aussicht auf staatliche Zuschüsse die Menschen zur Vorsorge treibt. Die unterste Einkommensgruppe, die mit weniger als 606 Euro im Monat auskommen muss, entscheidet sich danach nur sehr selten für eine Riester-Rente. "Insgesamt gesehen sind es vor allem mittlere Einkommensgruppen, die eine private Altersvorsorge mit den Vorteilen einer staatlichen Förderung verbinden wollen und sich vorrangig für eine Riester-Rente entscheiden", schreiben die Autoren.
Vor allem für Eltern mit mehreren Kindern sei dies ein attraktives Modell. Je kinderreicher die Familien sind, desto häufiger wird geriestert. Schließlich steigt mit jedem Kind der staatliche Förderanteil an den Prämienzahlungen, während der Eigenanteil entsprechend sinkt. Gerade Eltern bei der Altersvorsorge zu fördern war ein erklärtes Ziel der Rentenreformer.
Gefloppt ist das Vorhaben dagegen bei den Geringverdienern. Obwohl hier der staatliche Förderanteil besonders hoch ist und der Eigenanteil nur fünf Euro im Monat beträgt, gibt es bei den Beziehern kleiner Einkommen viele Vorsorgemuffel.
Arbeiten bis ins hohe Alter
Wer nichts auf die hohe Kante legt, dem bleibt noch die Möglichkeit, bis ins hohe Alter zu arbeiten. Im Regelfall ist es vor allem der Mittelstand, dem es gelingt, mit unterschiedlichen Formen der Vorsorge die Rentenlücke zu schließen. Die schwarz-gelbe Koalition hatte sich deshalb vorgenommen, ein Gesetzespaket zur Bekämpfung der Altersarmut zu schnüren.
So soll für Selbstständige eine Versicherungspflicht eingeführt werden und die Hinzuverdienstgrenzen für Frührentner angehoben werden. Diese beiden Ziele sind in der Koalition unumstritten.
Denn viele Solo-Selbstständige haben nach Ansicht von Rentenexperten ein hohes Risiko, im Alter in die Sozialhilfe abzurutschen, wenn sie nicht vorsorgen. Ob dagegen die von der Arbeitsministerin angekündigte Zuschussrente für langjährig versicherte Geringverdiener kommt, steht in den Sternen.
Der Grund liegt nach Ansicht von Martin Reißig, dem Präsidenten des Bundesverbandes der Rentenberater, vor allem darin, dass es sich für Finanzberater schlicht nicht lohnt, solche Mini-Riester-Verträge zu vertreiben. Deshalb würden "diese Verträge faktisch nicht angeboten werden", beklagt Reißig.
Was bedeutet die Rente für ganz verschiedene Menschen in diesem Land? Die "Welt am Sonntag" hat sich umgehört. Drei Beispiele:
Die Alleinerziehende
Sabine John arbeitet, seit sie mit 16 nach der mittleren Reife von der Schule abging. Erst die Ausbildung, danach beschäftigt als Verwaltungsangestellte, so sieht der Berufsalltag der 50-Jährigen seit fast dreieinhalb Jahrzehnten aus. Nur als sie mit 36 Mutter wurde, blieb die Mainzerin einmal zwei Jahre lang zu Hause bei ihrem Sohn. Dann lief das Erziehungsgeld aus, und die Alleinerziehende stieg wieder bei ihrem Arbeitgeber, einem medizinischen Großlabor, ein.
Das Kind war häufig krank, mehr als 25 Wochenstunden waren in den ersten Jahren nicht drin. Mittlerweile hat John auf 30 Stunden erhöht und würde auch gern ganztags arbeiten – wenn denn nur eine Stelle frei wäre. Doch in ihrem Betrieb wird rationalisiert, und die Teilzeitpositionen sind ohnehin weniger gut dotiert.
Mit ihrem Gehalt und dem Mindestunterhalt vom Vater kommt Sabine John daher gerade so über die Runden. "Da darf rein gar nichts passieren. Es wäre schon eine Katastrophe, wenn die Waschmaschine den Geist aufgäbe." Für eine private Altersvorsorge bleibt da nichts übrig. Im Gegenteil: Als sie vor Kurzem umzog, weil ihr Sohn die Schule wechselte, musste Sabine John dafür ihren Sparvertrag mit vermögenswirksamen Leistungen auflösen.
Ihr Arbeitgeber bietet zwar die Umwandlung des 13. Monatsgehalts in eine attraktive betriebliche Altersvorsorge an. "Aber ich brauche das Weihnachtsgeld einfach voll für unseren Alltag." Vor Kurzem kam ein Rentenbescheid. Der Betrag lag bei rund 700 Euro, nur knapp also über der Grundsicherung. Sabine John: "Ich lebe für mein Kind. Das ist meine große Herausforderung." Um anderen zu helfen, engagiert sie sich im Vorstand des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter.
Der Niedrigverdiener
Lisa Schiller ist vor 19 Jahren aus Kasachstan nach Berlin gekommen. Gleich nach einem Sprachkurs machte sich die gelernte Konditorin auf die Suche nach Arbeit. In ihrer Heimat hatte sie schon seit dem 16. Lebensjahr gearbeitet. Aber das wurde in Deutschland nicht angerechnet, weil sie keine Spätaussiedlerin war. 1996 fand sie eine Stelle als Kassiererin in einem großen Discounter, konnte die anfängliche Stundenzahl schnell von 20 auf 28 pro Woche steigern.
Bei den Kollegen galt sie als fleißig und zuverlässig. Mitte 2004 teilte ihr der Arbeitgeber mit, man müsse ihre Stelle aus wirtschaftlichen Gründen wieder auf 24 Stunden reduzieren. "Ich hätte gerne Vollzeit gearbeitet", sagt Lisa Schiller. Durch regelmäßige Überstunden kam sie dennoch auf einen Bruttolohn von durchschnittlich 1800 Euro im Monat. Bis vor einem Jahr: Da konnte sich die 51-Jährige plötzlich bei der Arbeit nicht mehr bewegen.
Ein Bandscheibenvorfall, mit ausgelöst durch das jahrelange Heben schwerer Kisten. Seither ist Schiller krankgeschrieben. Ihre Ersparnisse werden von der Behandlung aufgezehrt, denn sie nimmt alternative Heilmethoden wie Akupunktur oder Reiki in Anspruch: "Aber ohne die könnte ich mich nicht einmal mehr im Haushalt versorgen."
Auf dem letzten Rentenbescheid stand, sie werde einmal 742 Euro erhalten. Das war zu einem Zeitpunkt, als sie davon ausging, bis zum 67. Lebensjahr arbeiten zu können. Dann wäre sie auf 32 Beitragsjahre gekommen. "Ich werde im Alter nicht von meiner Rente überleben können." Für das Alter hat sie Notfallszenarien entworfen: Entweder bei der erwachsenen Tochter Unterschlupf finden oder zu ihren Schwestern nach Kasachstan zurückziehen.
Der Selbstständige
Als der Stuttgarter Diplomdesigner Peter Mahler (Name geändert) sich vor zwölf Jahren selbstständig machte, schien das der richtige Schritt. Drei Jahre lang hatte der heute 44-Jährige nach dem Studium für zwei renommierte Werbeagenturen gearbeitet, brachte für die eigene Firma Referenzen, Kontakte und schon einige Kunden mit.
In den ersten Jahren lief alles gut, der Kundenstamm wuchs wie auch das Einkommen. Doch 2007 kam der Einbruch. Mehrere große Auftraggeber sprangen ab. Die einen, weil sie nur noch mit großen PR-Firmen zusammenarbeiten wollten, die anderen, weil sie sparen mussten. Mahler gelang es nicht, neue Kunden zu finden. Hinzu kam ein Streit mit dem Finanzamt, das von Mahler plötzlich den Existenzgründerrabatt zurückforderte.
Begründung: Er habe bereits im Studium für Kleinaufträge ein Gewerbe angemeldet, sei also nach dem Studium kein echter Existenzgründer mehr gewesen. Weil Mahler nicht genügend Geld für die Nachzahlung hatte, musste er sich von seinen Eltern einen Vorschuss auf das Erbe geben lassen. Hatte er in guten Zeiten bis zu 50.000 Euro Jahresgewinn vor Steuer gemacht, so schmolz dieser nun auf 20.000 Euro jährlich zusammen.
Als Mitglied der Künstlersozialkasse wird Mahler zwar nicht ganz ohne Rentenansprüche dastehen: "Aber die liegen unter dem Existenzminimum." Er selbst zahlt monatlich noch einmal 150 Euro in eine Lebensversicherung ein, mehr lässt seine finanzielle Situation nicht zu.
Er ist sich sicher: "Ich werde im Alter ein Fall für die Grundsicherung sein." In der Branche ist der Designer kein Einzelfall. Den Vorstoß von Ursula von der Leyen fand Schmidt gut: "Endlich wird die Problematik thematisiert."
Quelle: welt.de